Die tschechische und die tschechoslowakische Sozialdemokratie sind aufgrund ihrer 140-jährigen Existenz im öffentlichen Raum gewissermaßen allgegenwärtig. Denkmäler ihrer Aktivität und ihrer politischen Erfolge sind nicht nur Bauten, in denen die Partei und ihr nahe stehende Institutionen residierten. Spuren der Existenz der Sozialdemokratie sind auch Gedenktafeln, Grabsteine, Straßen als Orte großer Demonstrationen für das Allgemeine Wahlrecht oder feierliche Kongresse wie jener im Frühjahr 1938. Zeugnis vom Leben und der Arbeit von Sozialdemokraten legen auch Kongress- und Jahresberichte ab, historische Darstellungen sozialdemokratischer Betriebe und Organisationen und – leider nur ausnahmsweise – eigenständig verfasste Chroniken der Partei.
Das Internetprojekt lidovedomy.cz strebt nicht an, die Geschichte der Sozialdemokratie zu erzählen. Wir haben uns ein wesentlich bedeutenderes Ziel gesetzt: Daran zu erinnern, wo überall man der Sozialdemokratie in ihrer 140-jährigen Geschichte begegnen kann. Den Gedanken ins allgemeine Bewusstsein zu rücken, dass die Kneipe dort ein Ort politischer Versammlungen, der Treffen von Arbeitervereinen oder Arbeitersportvereinen gewesen sein könnte. Dass in jenem Haus ein bedeutender sozialdemokratischer Redakteur oder Politiker gewohnt haben könnte. Und dass auch auf den Friedhöfen im Grenzgebiet Grabsteine von Politikern und Opfern des Kampfes gegen die Nazis aus der Zwischenkriegszeit zu Ende der Dreißigerjahre zu finden sind.
Jeder ist eingeladen, zum Internetprojekt lidovedomy.cz beizutragen. Es genügt, Umschau zu halten, alte Zeitungen durchzublättern, bei historie[o]masarykovaakademie.cz nachzufragen, wo Sie am besten nachforschen, und dann mit einer kurzen Beschreibung Fotos von Orten zu schicken, die mit der Geschichte der Sozialdemokratie verbunden sind. Oder Sie stellen bei Spaziergängen durch verschiedene Städte selbst fest, wo überall Spuren der organisierten Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie zu finden sind.
Arbeiterproteste erschütterten bereits in den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts den heutigen Prager Stadtteil Smíchov (Smichow), ebenso wie Fabriken in Mladá Boleslav (Jungbunzlau). In Prager Gasthäusern fanden bereits vor dem denkwürdigen Jahr 1878 Vorbereitungen zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei statt. Die Gaststätte „U Kaštanu“ im Stadtteil Břevnov (Breunau) dürfte den meisten als Ort der Gründung der Sozialdemokratischen Partei in den böhmischen Ländern bekannt sein.
Aufgrund ihrer Zusammensetzung war die Sozialdemokratie die bedeutendste Partei der Ersten Republik. Denken wir an die Gewerkschaften, namentlich den Tschechoslowakischen Gewerkschaftsverband, an Verlage wie den Zentralen Arbeiter-Buchhandel und -Verlag, Banken, Versicherungen, Redaktionen von Zeitschriften und Zeitungen, von denen die bedeutendste Právo lidu (Volksrecht) war. Die Standorte all dieser Institutionen in der ganzen Republik gehören natürlich auch zur Karte der Denkmäler, die mit der sozialdemokratischen Bewegung verbunden sind.
Nur wenigen ist bekannt, dass sich auf dem Areal des Volkshauses in der Prager Straße Hybernská in den Jahren der Ersten Republik auch ein selbstständiges Kraftwerk befand, oder dass sich an der Ausschreibung für den Umbau des Volkshauses in den „Arbeiterpalast“ im Jahr 1914 auch die Architekten Josef Gočár und Jan Kotěra beteiligten. Allein die Geschichte des Prager Volkshauses und seiner Ursprünge würde ein umfangreiches Buch ergeben. Und dann war in der Prager Straße Nekázanka noch das Sekretariat der Deutschen Sozialdemokratischen Partei in der Tschechoslowakei (DSAP) und an der Ecke Křižíkova-Straße/Karlínské náměstí (Karlsplatz) in den Dreißigerjahren auch das Sekretariat des Vorstands der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Exil (SOPADE).
Sozialdemokraten waren nicht nur treibende Kräfte der Oktoberrevolution von 1918 und der Unabhängigkeitserklärung der Tschechoslowakei, für die das Prager Volkshaus ein Denkmal ist. Sie waren auch Schlüsselfiguren der Politik in der Ersten Republik und bis zum letzten Augenblick Verteidiger der damaligen Zwischenkriegsdemokratie, sowohl die Tschechoslowakische Sozialdemokratische Arbeiterpartei wie auch als Minderheitsvertretung die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei. Als Erinnerungsstätte sei auf das Volkshaus in Cheb (Eger), Náměstí Baltazara Neumanna 1 (Balthasar-Neumann-Platz 1), verwiesen, um das sudetendeutsche Sozialdemokraten im Jahr 1938 mit der Waffe in der Hand gegen Nazis kämpften.
Der Sozialdemokratie verbundene Menschen waren auch Köpfe des bürgerlichen Widerstandskampfes gegen Hitler im Zweiten Weltkrieg. Damit ist eine Reihe von Gedenkorten verbunden. Deren wichtigster in der Prager Straße Anny Letenské erinnert an die Tätigkeit des „Petitionsausschusses »Wir bleiben treu«“ und sein politisches Programm „Für die Freiheit. In eine neue Tschechoslowakische Republik.“
Sozialdemokraten wurden von Nazis und Kommunisten eingesperrt, sie waren in vielen Fällen das erste Ziel kommunistischer Repression, denn sie waren der bedeutendste Gegner der Kommunistischen Partei. Gedenktafeln erinnern daran – und die Gräber derer, die nicht überlebt haben.
Sozialdemokraten gehörten auch zu den ersten, die nach dem November 1989 zu Beginn der Samtenen Revolution den politischen Wettbewerb in der Tschechoslowakischen Republik wiederherzustellen begannen, indem der Erneuerungsausschuss der ČSSD seine Tätigkeit aufnahm. Nur wenige wissen heute, dass der Ausschuss seinen Sitz in den Räumen über der Václav-Špála-Galerie in der Prager Národní třída (Nationalallee) hatte und dass gleichzeitig mit ihm quer durch die Republik Organisationszellen der erneuerten Partei entstanden.